Hinter den Kulissen – Wie Tom Vialle zu Honda kam
Tom Vialle in den Farben des HRC Factory Teams. / Foto: Kevin Francois
Eigentlich war alles klar: Tom Vialle hatte es sich in den USA bequem gemacht. Zwei WM-Titel im Gepäck, das Leben in Florida – und ein sicherer Platz im KTM-Programm. Doch Motorsport schreibt bekanntlich seine eigenen Drehbücher, und diesmal endete das Kapitel Vialle nicht in Orange, sondern in Rot. Ab 2026 steht der Franzose im Honda-Werksteam HRC – und sorgt damit für den wohl spannendsten Teamwechsel des Jahres.
Wenn aus Routine Stillstand wird
Acht Jahre lang war bei Honda alles auf Tim Gajser zugeschnitten. Titel, Pokale, Fanliebe – das Paket passte. Doch nach der Saison 2024 war die Luft raus. Zu viele Missverständnisse, zu viele verpasste Chancen, zu viel „Business as usual“. Zwischen Honda und Gajser war der Lack ab.
Während der Slowene leise den Blick auf neue Projekte richtete, suchte Honda nach frischem Blut. Ein Fahrer, jung, ehrgeizig, planbar – das war das Anforderungsprofil. Vialle? Zu dem Zeitpunkt noch kein Thema.
Plan A: Coenen hoch zwei
Hinter den Kulissen bastelte HRC längst an einem anderen Traum: den Coenen-Zwillingen. Lucas und Sacha – zwei belgische Wunderkinder auf KTM – galten als das heißeste Zukunftsduo im Paddock. Gespräche liefen, ein Vorvertrag soll schon fast unterschriftsreif gewesen sein. Honda witterte die Chance, sich langfristig neu aufzustellen.
Dann kam der Dämpfer: KTM bekam durch die Finanzspritze der indischen Bajaj-Gruppe neuen Rückhalt – und machte alle offenen Vertragsausgänge kurzerhand dicht. Die Coenens blieben, wo sie waren, und Hondas schöne Zukunftsplanung zerbröselte schneller als ein Sandkasten in Lommel.
Plan B: Vialle – und plötzlich passte alles
Während Honda noch nach Alternativen suchte, rumorte es auch bei KTM. Die Amerikaner hatten mit Eli Tomac und Aaron Plessinger ihre Supercross-Aufstellung fixiert, dazu schielte Jorge Prado auf ein US-Abenteuer – und plötzlich war kein Platz mehr für Tom Vialle.
Der Franzose, ohnehin nicht der Typ fürs Jetset-Leben in Florida, fühlte sich in der AMA nie wirklich zuhause. Zu eng, zu laut, zu viel Show. Und da war Honda. Auf der Suche nach einem schnellen, cleveren, technisch sauberen Fahrer mit Titel-DNA – kurz gesagt: genau das, was Vialle mitbringt.
Der richtige Mann zur richtigen Zeit
Mit zwei MX2-Weltmeisterschaften, zwei AMA Supercross-Titeln, einem ausgeprägten Sinn für Disziplin und einem Fahrstil, der aussieht, als hätte ihn ein Mathematiker entworfen, ist Vialle das perfekte Gegenstück zu Herlings’ roher Aggression.
Während Honda parallel an einem Deal mit Jeffrey Herlings arbeitet, der ab 2026 das Team ergänzen soll, steht fest: Die Roten haben sich klug aufgestellt. Herlings bringt Erfahrung, Vialle Präzision, Ruben Fernandez sorgt für die solide Mitte – das ist nicht nur eine Fahrerliste, das ist fast schon ein taktisches Konzept.
Neustart in vertrauter Umgebung
Für Vialle fühlt sich der Wechsel wie Heimkommen an. Europäische Strecken, vertraute Gegner, weniger Show, mehr Racing – genau sein Ding. In den USA hat er gelernt, was Professionalität bedeutet, in Europa kann er zeigen, dass er damit auch Titel gewinnen kann.
Und für Honda? Es ist die Rückkehr zu alter Stärke – mit neuem Anstrich. Seit Jahren war man zu sehr auf Gajser fixiert, jetzt verteilt sich die Verantwortung auf mehrere Schultern. Mit Monster Energy als neuem Hauptsponsor im Rücken kann HRC so aggressiv auftreten wie lange nicht mehr.
Wenn Plan B besser ist als Plan A
Eigentlich wollte Honda ja die Zukunft mit den Coenen-Zwillingen sichern. Doch manchmal schreibt der Fahrermarkt Geschichten, die besser funktionieren als jede Strategie. Tom Vialle ist kein Notnagel – er ist ein Volltreffer. Der Franzose bringt alles mit, was Honda braucht: Tempo, Ruhe, Titelhunger – und ein Gesicht, das in jede Marketingkampagne passt.
Kurz gesagt: Aus der Notlösung wurde ein Neustart mit Stil. Und wer weiß – vielleicht sieht man 2026 ja wieder einen Franzosen ganz oben auf dem WM-Podium. Diesmal allerdings in Rot.
