Fahrwerksgeheimnisse: Marc Odenthal von ORS im exklusiven Interview – Part 1
In diesem Interview gewährt Marc Odenthal, Fahrwerksprofi und Gründer von ORS – Odenthal Racing Service, faszinierende Einblicke in die Welt des Fahrwerkservice. Mit einer jahrelangen Karriere sowohl als aktiver Fahrer als auch als Spezialist für Fahrwerkseinstellungen hat Marc eine tiefgehende Expertise entwickelt, die er nun mit uns und euch teilt.
Er spricht über seine persönliche Reise vom aktiven Fahrer zum gefragten Fahrwerkspezialisten, die häufigsten Fehler bei der Abstimmung und die Notwendigkeit einer individuellen Anpassung des Fahrwerks an den Fahrer sowie die jeweilige Strecke. Dabei erklärt er auch, wie das Fahrwerk die Leistung und das Sicherheitsgefühl auf der Strecke maßgeblich beeinflussen kann.
Wie bist du dazu gekommen, Fahrwerkspezialist im Motocross-Bereich zu werden? War es eine Leidenschaft oder ein glücklicher Zufall?
Der Grundstein für meine Arbeit als Fahrwerksspezialist im Motocrossbereich wurde damals gelegt, als ich selbst noch aktiv Motocross fuhr. Gemeinsam mit meinem Bruder hatten wir einen Fahrwerksmann, Jürgen Schulz, der unter dem Namen S-TECH bekannt war. Er war nicht nur auf Fahrwerktuning spezialisiert, sondern auch auf den Verkauf von Ersatzteilen. Jürgen hat damals unsere Fahrwerke betreut und mich dazu ermutigt, selbst in diesem Bereich tätig zu werden. Er sagte: „Mach doch mal was bei dir, fang selbst damit an. Da ist doch niemand weit und breit, der so etwas macht.“
2008 habe ich dann tatsächlich damit begonnen – zunächst nur für mich selbst und gemeinsam mit meinem Bruder. Wir haben vieles ausprobiert, getestet und „erfahren“ – im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke. So entwickelte ich schnell ein Gefühl dafür, wie unterschiedliche Einstellungen wirken. Ich konnte bereits nach kurzer Zeit herausfinden: „Wenn ich hier die Shim-Einstellungen ändere oder das Paket anpasse, fühlt sich das Motorrad entsprechend anders an.“
Dank dieser Erfahrungen machte ich große Fortschritte bei den Anpassungen. Mit den Jahren entwickelte sich das Ganze immer weiter. Ab 2008 lief es kontinuierlich – 2009, 2010, 2011 – und im Jahr 2012 zog ich aus meiner Garage, in der ich bis dahin gearbeitet hatte, in eine kleine Halle um. Diese Halle hatte eine Größe von etwa 60 bis 70 Quadratmetern.
Anfangs betrieb ich das Ganze noch recht klein und nebenbei, doch mit der Zeit entdeckte ich meine Leidenschaft für das Fahrwerktuning und baute sie immer weiter aus. Letztendlich war es der Schubser von Jürgen Schulz, der alles ins Rollen brachte. So hat meine Reise begonnen.
Was sind die häufigsten Fehler, die Fahrer bei der Abstimmung ihres Fahrwerks machen, und wie kann man diese vermeiden?
Der allererste und wichtigste Punkt, den man beachten sollte, wenn man auf die Strecke geht, ein neues Motorrad kauft oder ein gebrauchtes Motorrad besitzt, ist die Einstellung des Durchhangs. Dieser Schritt wird jedoch von vielen Fahrern vernachlässigt: Die meisten messen ihren Durchhang nicht und stellen ihn nicht ein. Dadurch steht das Motorrad häufig komplett falsch im Federweg.
Besonders wichtig ist dies, wenn man nicht in die oft angegebenen Standardwerte von 75 bis 85 Kilogramm Gewicht oder die typische Körpergröße passt. In solchen Fällen sind die Federn nicht optimal abgestimmt. Der erste Schritt sollte dann immer die Anpassung der Federn sein – sowohl der Gabel als auch der Stoßdämpferfeder. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Motorrad im richtigen Dämpfungsbereich arbeitet und in der korrekten Höhe steht oder fährt. Leider wird dieser entscheidende Punkt – von Anfängern bis hin zu Profis – häufig ignoriert.
Bei neueren Modellen sollte man zusätzlich auf die Gabelluft achten und die Gabel regelmäßig entlüften. Es ist ebenso wichtig, darauf zu achten, dass beim Einbau der Komponenten nichts verspannt montiert wird. Auch die Pflege der Bauteile spielt eine große Rolle: Das Innenrohr der Gabel, also das Chromrohr, sollte regelmäßig gereinigt und gepflegt werden, um ein reibungsloses Gleiten sicherzustellen.
Ein weiterer oft vernachlässigter Bereich sind die Lager – insbesondere Umlenkungslager, Dämpferlager und ähnliche Bauteile. Diese sollten stets sauber, leichtgängig und gut gefettet sein, da sie erheblichen Einfluss auf die Funktion des Fahrwerks haben.
Zusammenfassend ist eine effektive Grundeinstellung des Fahrwerks der Schlüssel zu einem optimal funktionierenden Motorrad. Genau hier machen viele Fahrer grundlegende Fehler bei der Abstimmung.
Wie wichtig ist die individuelle Anpassung des Fahrwerks auf den Fahrer und, oder die jeweilige Strecke?
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass dies mit einem Maßanzug vergleichbar ist: Wenn du dir einen Anzug maß schneidern lässt, sitzt er perfekt. Genauso kannst du dir das auch beim Fahrwerk vorstellen.
Bei der Anschaffung eines neuen Motorrads sind die Federn in den meisten Fällen zu hart. Diese müssen unbedingt angepasst werden, und auch das Setting wird in der Regel – selbst mit weicheren Federn – noch nicht optimal sein. Motorradhersteller entwickeln ihre Modelle basierend auf zahlreichen Testfahrten mit verschiedenen Fahrerprofilen, darunter auch langsameren Hobbyfahrern. Das Ziel dabei ist, ein Fahrwerk zu schaffen, das für möglichst viele Käufer funktioniert.
Es ist jedoch nahezu unmöglich, ein Fahrwerk zu bauen, das für alle Fahrer perfekt passt. Nur etwa 10 bis 20 Prozent der Fahrer kommen mit dem Serienfahrwerk von Anfang an gut zurecht. Der Großteil der Fahrer fällt jedoch aus diesem Raster heraus, und für diese ist eine individuelle Fahrwerksanpassung meiner Meinung nach entscheidend. So lässt sich das Motorrad in Sachen Fahrwerk auf die speziellen Anforderungen des Fahrers und die jeweiligen Streckenbedingungen abstimmen.
Vorteile eines individuell abgestimmten Fahrwerks
Dies hat mehrere Vorteile: Zunächst sorgt ein gut abgestimmtes Fahrwerk für ein besseres Gefühl, weil das Motorrad stabil liegt, gute Bodenhaftung bietet und optimale Kontrolle ermöglicht. Diese Faktoren sind entscheidend, da sich daraus automatisch auch ein höheres Tempo ergibt. Mit einem passenden Fahrwerk kann man sich dann stärker auf andere Dinge konzentrieren, wie etwa die Fahrtechnik oder das Feintuning des Fahrstils.
Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass ein einmal angepasstes Fahrwerk zu Beginn der Saison nicht unbedingt bis zum Ende der Saison perfekt bleibt. Im Laufe des Jahres entwickelt sich der Fahrer weiter, steigert sein Tempo und gewöhnt sich an das Fahrwerk sowie an das Motorrad. Man „verschmilzt“ sozusagen mit dem gesamten System. Aus diesem Grund wird es oft notwendig sein, am Ende der Saison oder zu Beginn des neuen Jahres das Setting erneut anzupassen.
Nicht ohne Grund testen Profis ihr Fahrwerk ein- bis dreimal im Jahr oder nehmen kontinuierliche Anpassungen vor. Regelmäßige Nachjustierungen sind unerlässlich, um das Fahrwerk stets an das aktuelle Fahrniveau und die individuellen Bedürfnisse des Fahrers anzupassen.
Welche Faktoren beeinflussen die Wahl der Fahrwerkskomponenten am meisten – ist es der Fahrstil, die Streckenbeschaffenheit oder etwas anderes?
Also grundsätzlich würde ich sagen, dass es vor allem der Fahrer selbst ist, der entscheidet. Ein Beispiel: Oft gibt es Fahrer, die grundsätzlich sagen, dass sie keine Luftgabel fahren möchten – sei es, weil sie vielleicht schlechte Erfahrungen damit gemacht haben oder weil sie das Gefühl der Luftgabel einfach nicht mögen. Daher entscheidet meiner Meinung nach immer der Fahrer und sein Gefühl, welche Fahrwerkskomponenten in Frage kommen. Ist es eine Luftgabel? Ein Standardfahrwerk? Oder etwas von WP Pro Components oder von KYB? Was genau am Ende gewählt wird, hängt immer vom Fahrer ab.
Dann spielt natürlich auch der Leistungsstand eine große Rolle – also, ob man Profi oder Amateur ist. Ich bin der Meinung, dass heutzutage alle Motorräder – ob es nun eine KTM, eine Yamaha, eine Kawasaki oder eine Honda ist – alle Standardfahrwerke sind grundsätzlich so weit entwickelt und so gut, dass du selbst für einen Profifahrer schon unglaublich viel daraus herausholen kannst und auch damit an den Start gehen könntest. Zum Beispiel: Wir sind mit Max Spieß oder auch weiterhin mit Standardfahrwerken gefahren – Standardstoßdämpfer, Standardluftgabel, überarbeitet und angepasst auf ihn, weil ihm einfach das Gefühl des Standardstoßdämpfers und der Luftgabel am besten zugesagt hat.
Individuelle Entscheidungen und der Einfluss des Fahrers
Ein anderes Beispiel: Tom Koch ist lange Zeit mit dem X-ACT Pro gefahren – einem X-ACT Pro Federbein mit SuperTrucks-Technologie und einer X-ACT Pro Federgabel mit Cornwell-Technologie. Bis Ende letzten Jahres, als wir erstmals die Luftgabel auf Sardinien getestet haben, und er sich dann für die Luftgabel entschieden hat. Im Rückblick war es die beste Entscheidung, weil wir über die Saison hinweg super wenig an der Einstellung von Hard auf Sand verstellen mussten und wir eine viel stabilere und bessere Komponente als in den Jahren zuvor hatten, was die Gabel betrifft.
Es gibt also Fahrer, die komplett mit X-ACT Pro fahren, aber wie gesagt: Das Wichtigste ist meiner Meinung nach, dass es letztlich der Fahrer selbst ist, der entscheidet, wie er sich am wohlsten fühlt – oft auch eine Kopfsache. Wichtig ist auch, dass die Wahl des Fahrwerkstechnikers, der dich unterstützt, eine enorme Vertrauenssache ist. Es bringt dir nichts, wenn du irgendwo ein günstiges Angebot bekommst oder etwas umsonst erhältst, aber dem Techniker nicht vertraust. Du musst 100 % Vertrauen zu ihm haben, egal ob das Paket nachher 10.000 Euro im Jahr kostet oder nur 100 Euro im Jahr. Das spielt am Ende keine Rolle, solange du es dir leisten kannst. Das Allerwichtigste ist Vertrauen – hundertprozentiges Vertrauen zwischen Fahrer und Fahrwerkstechniker.
Was unterscheidet die Fahrwerksanforderungen im Profi-Motocross von denen im Amateurbereich?
Ganz klar sind es die Strecken. Natürlich spielen auch die Motorräder und das Tempo der Fahrer eine Rolle, aber grundsätzlich geht es immer um den Untergrund der Strecke. Dort, wo du wirklich schwarze Streifen am Boden siehst, wenige, tiefere Rillen oder einen weicheren Boden mit anderen Kanten – das sind die wesentlichen Unterschiede. Daraus ergeben sich dann die spezifischen Anforderungen an das Fahrwerk. Dazu kommt das Tempo, insbesondere bei den Sprüngen. Bei der MXGP oder den ADAC MX Masters haben wir teilweise deutlich größere Sprünge, und das Tempo, mit dem die Fahrer in diese Sprünge gehen, ist natürlich ebenfalls ein anderes. Diese Faktoren sind die Hauptunterschiede.
Da Marc enorm viele, wie wir finden auch sehr wertvolle Informationen zu teilen hatte, reicht der Platz für ein Interview kaum aus – und so haben wir uns entschieden, es in zwei Teile zu unterteilen. Freut euch also auf Part 2, in dem Marc noch tiefere Einblicke und praxisnahe Tipps gibt!